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Entwicklungslinien – eine oft unterschätzte Dimension

Entwicklungslinien – Facetten deiner Persönlichkeit

Im Coaching, in therapeutischen Settings und in unseren Seminaren und Ausbildungen stellen uns Klienten und Teilnehmerinnen immer wieder folgende Fragen:

  • Wo stehe ich (heute) in meiner persönlichen Entwicklung?
  • Wieso verhalte ich mich – auch wenn ich es gerne anders hätte – gerade genau so und nicht anders?
  • Was hält mich davon ab, mein Leben in Fülle zu leben?
  • Wie kann ich mich weiter entwickeln?
  • Was ist meine nächste Entwicklungsaufgabe?

So verständlich diese Fragestellungen sind – so schwierig ist es, eine wirklich umfassende Antwort zu geben, die eine gesunde Entwicklung begünstigt.

Zum einen, weil nur der Fragende selbst eine passende Antwort für sich finden kann. Diesen Prozess nennen wir „Leben“ und er hat unter anderem mit dem Übernehmen von Verantwortung für sich selbst zu tun – dann erfährt das Selbst auch Antworten auf diese Fragen.

Zum anderen, weil wir als Angefragte natürlich keinen exklusiven Zugang zu „der“ Wahrheit haben und wir als Begleiter lediglich (mehr oder weniger) hilfreiche Hinweise geben können, die dem Betreffenden zum Denken, Nachspüren und Handeln anregen können. Der Stock, mit dem wir auf den Mond zeigen, ist eben nicht der Mond.1

Lost in space

Auf der Suche nach persönlichem Glück, einem erfüllten Leben und spiritueller Erleuchtung irrlichtern viele Menschen verzweifelt umher. Besuchen einen Selbsterfahrungs-Workshop nach dem anderen, schließen sich charismatischen Gurus an oder nehmen an geheimnisvollen Ritualen teil. Alles ohne Karte, alles ohne Kompass. Alles ohne eine Idee, wohin sie diese Form der Reise bringen wird. Und alles ohne eine Vorstellung davon, wo sie stattdessen mit Karte und Kompass hingelangen könnten.

Und das Angebot auf dem Markt für Persönlichkeitsentwicklung und Spiritualität ist riesig und unüberschaubar. Der Versuch, für sich ohne große Umwege und viel Ausprobieren den richtigen, zum eigenen Selbst passenden Weg zu finden und diesen konsequent zu realisieren, gleicht der Aussicht auf einen Sechser im Lotto. Entsprechend viel Zeit und Geld kann dafür aufgewendet werden. Entsprechend viele Erwartungen entstehen, um anschließend enttäuscht zu werden.

Die Integrale Landkarte

Umso wertvoller erscheint es uns, einen Maßstab anzusetzen, der die Persönlichkeit möglichst umfassend und ganzheitlich in den Blick nimmt. Der in der Lage ist, die wirklichen Verhältnisse nüchtern sichtbar zu machen und zu konturieren, ohne überflüssige, verschleiernde Ornamentik.

Selbstverständlich können wir unsere eigene Entwicklung nicht planen – nach dem Motto „wenn ich Kurs X besuche, werde ich erleuchtet sein“. Die Alternative bedeutet aber auch nicht, sein eigenes Leben in die Hände charismatischer Menschenlehrer zu legen in dem naiven Vertrauen, alles würde schon prima werden („wer weiß wofür es gut ist“). Ein kluger Weg für die Entfaltung des eigenen Potenzials liegt in der Mitte. Dafür benötigen wir jedoch ein zuverlässiges Navigationsgerät, um unseren Standort und unsere Fortschritte auf unserem Weg zu bestimmen.

Mit dem Integralen Ansatz von Ken Wilber existiert genau eine solche Karte, ein solcher Kompass, der grundlegende und klärende Orientierungen für eine wirksame und heilsame Entwicklung der eigenen Persönlichkeit bietet. Der es uns als Menschen ermöglicht in echter Fülle erwachsen zu werden, in radikaler Freiheit zu erwachen, eigene Schattenthemen aufzuräumen und in vollem Umfang in der Welt aufzutauchen.
Die Integrale Landkarte beschreibt insgesamt fünf grundlegende Aspekte unseres einzigartigen Potenzials – Zustände, Strukturstufen, Entwicklungslinien, Typen und Quadranten – und stellt damit eine umfassende und zugleich einfach zu handhabende Navigationshilfe für unsere Entwicklung bereit.

Mit Blick auf die Entwicklung von Persönlichkeit werden wir uns hier den Entwicklungslinien zuwenden und auf die anderen Aspekte des Integralen Ansatzes dort eingehen, wo uns dies notwendig oder sinnvoll erscheint.2

Jeder Mensch ist einzigartig

Obgleich dies für dich vielleicht wie eine Binsenweisheit klingt, wurde noch nicht jeder Mensch über diese Tatsache informiert oder gar aufgeklärt. Ganz zu schweigen davon, diese Tatsache wirklich mit jedem Atemzug zu verinnerlichen, in seinem inneren und äußeren So-Sein zu realisieren.

Du wirst keinen Menschen finden, der genauso ist wie du es bist. Selbst wenn du ein eineiiges Zwillings-Geschwister hast, wirst du dich von ihm oder ihr unterscheiden. Deine Einzigartigkeit resultiert aus dem unnachahmlichen Mix, den das Leben für dich bereitstellt:

Deiner einzigartigen Lebenserfahrung, die aus deinem inneren Wahrnehmen, Erleben und Reflektieren und Interpretieren der Welt resultiert – von dir als Individuum mit einem subjektiven Bewusstsein, einem (manifesten, subtilen und kausalen) Körper und eingebettet in diverse kulturelle Bezüge und eine materielle Umwelt.

  • Deinem biologischen Körper – deiner individuellen materiellen Gestalt mit all ihren charakteristischen Besonderheiten, welche die Möglichkeiten und Begrenztheiten deiner Verhaltensweisen und Handlungsfähigkeiten bestimmen.
  • Deiner einzigartigen Konstellation von sozialen Interaktionen mit anderen Menschen, sei es in familiären oder privaten Beziehungen, im Beruf oder im öffentlichen Feld – als spezifische Form der non-verbalen und verbalen Kommunikation, wie du und deine Interaktionspartner aufeinander reagieren, miteinander umgehen, einander beeinflussen und führen.
  • Deiner wundervollen Art mit den dich umgebenden beruflichen und privaten, persönlichen und gesellschaftlichen Kulturen in Resonanz zu gehen und auf deine Weise ganz individuell zur Welt beizutragen.

Dieses Auftauchen von dir, dieses Erscheinen in allen vier grundlegenden Perspektiven (Quadranten) – als Bewusstsein in materieller Gestalt, eingebettet in kulturelle Kontexte und eine materielle Umwelt – ist dein ganz unverwechselbarer Beitrag zum Kosmos.

Deine ganz einzigartige kosmische Adresse3 ist deine individuelle Antwort auf die Frage von GEIST, wie GEIST sich selbst erfahren kann.

Facetten deiner Persönlichkeit…

Unsere Entwicklung verläuft nicht homogen. In manchen Bereichen unseres Seins sind wir sehr weit entwickelt, in vielen Bereichen ist unser Potenzial vielleicht eher durchschnittlich ausgeprägt und in wiederum anderen Bereichen haben wir unser Potenzial bislang nicht entfaltet – oder wissen nicht einmal davon.

Dies ist nicht weiter schlimm – nicht jeder Mensch muss und wird in allen Disziplinen des Lebens als Top-Athletin herausragen. Und ein solcher Anspruch würde uns auch hoffnungslos überfordern.

Nach unserem Verständnis geht es in der Entwicklung von Menschen vielmehr darum, die Facetten der Persönlichkeit in ihrer gesamten Pracht zu erfassen. Und diese so zu kultivieren, dass dem Betreffenden künftig mehr Wahlmöglichkeiten im eigenen Denken, Handeln und (Mit-)Fühlen zur Verfügung stehen und sich der Horizont des eigenen Bewusstseins ausweitet auf Bereiche, die ihr oder ihm bislang verschlossen und daher unbekannt waren.

Entwicklungslinien berücksichtigen den Umstand, dass wir diese verschiedenen Aspekte unserer Persönlichkeit zeigen, die jeweils unterschiedlich weit entwickelt sein können und unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen beeinflussen oder beherrschen.

… nun auch wissenschaftlich (an-)erkannt

Lange Zeit wurde der Diskurs der Entwicklungsforscher von der Überzeugung beherrscht, es gebe nur eine Form der Entwicklung, nämlich die kognitive Intelligenz. Ihr Maß ist der von vielen Menschen als überaus wichtig erachtete Intelligenzquotient oder IQ.

Auf der Grundlage der Arbeiten von James Mark Baldwin wurde diese kognitive Linie insbesondere durch Jean Piaget erforscht. Er zeigte, dass jede Stufe der kognitiven Entwicklung eine andere Weltsicht hat und mit anderen Wahrnehmungen, Motivationen, moralischen Überzeugungen und einem veränderten Erleben von Zeit und Raum einhergeht. Seine Arbeit ist grundlegend für die Entwicklungsforschung und hat u.a. die Arbeiten von Abraham Maslow zur Bedürfnis-Entwicklung, von Lawrence Kohlberg zur Moral-Entwicklung, von Jane Loevinger zur Ich-Entwicklung und von Carol Gilligan zur weiblichen Moral-Entwicklung beeinflusst.

Seit einigen Jahrzehnten setzt sich jedoch zunehmend die Erkenntnis durch, dass es ganz verschiedene Formen der Intelligenz gibt4. So beschreibt Howard Gardner in seiner „Theorie der multiplen Intelligenzen“ insgesamt acht voneinander differenzierte Entwicklungslinien5.

Zahlreiche andere Entwicklungspioniere untersuchten die Entwicklung von Weltsichten, Wertvorstellungen, Geschlechter und Ästhetik und diversen anderen Feldern menschlichen Potenzials. Ken Wilber fasste die Essenz aus insgesamt mehr als 100 verschiedenen Systemen zur Beschreibung solcher Entwicklungslinien zusammen6.

Entwicklungslinien in allen Quadranten und auf allen Stufen

Diese verschiedenen Entwicklungslinien beeinflussen sich dabei mehr oder weniger gegenseitig. Manche Linien führen andere, von ihnen abhängige Entwicklungslinien. So ist die Entwicklung der kognitiven Linie ausschlaggebend für viele andere Entwicklungen, weil diese ein bestimmtes Maß an Wahrnehmung erfordern. Andere Linien entwickeln sich hingegen relativ unabhängig voneinander.

Dabei folgt jede Entwicklungslinie ihrer eigenen Sequenz von Entwicklungsschritten. Jede Linie realisiert so mit zunehmender Entwicklung eine Reihe aufeinander aufbauender Struktur-Stufen. Von Stufe zu Stufe der Entwicklung nehmen Komplexität und Bewusstheit zu. Jede Stufe trägt in einzigartiger Weise zur Entwicklung bei, dabei kann keine Stufe ausgelassen oder gar übersprungen werden. Auf diese Weise entstehen ganz neuartige Qualitäten, während die zugrunde liegenden Qualitäten der vorausgehenden Stufen transzendiert und anschließend in die neue Stufe integriert werden.

Und je nach betrachteter Qualität lässt sich jede Entwicklungslinie einem der vier Quadranten zuordnen. So schauen die meisten der oben beschriebenen Linien aus der individuellen Innenperspektive auf die Wirklichkeit – sie stammen allesamt aus der Entwicklungspsychologie, die im linken oberen Quadrant (ICH-Quadrant) beheimatet ist. Auch in den anderen Quadranten finden sich ebenso aussagekräftige Entwicklungslinien. Einige exemplarische Beispiele:

  • Entwicklung des individuellen Äußeren im rechten oberen Quadranten (ES-Quadrant), z.B. Entwicklung des individuellen Verhaltens-Spektrums, der körperlichen Fähigkeiten sowie von körperlicher Gesundheit.
  • Entwicklung kultureller Kontexte im linken unteren Quadranten (WIR-Quadrant), z.B. Entwicklung von kulturellen Wertvorstellungen oder des Wir-Empfindens.
  • Entwicklung sozialer Systeme und der Umwelt im rechten unteren Quadranten (SIE-Quadrant), z.B. Entwicklung des umgebenden sozialen, beruflichen und privaten Umfeldes (u.a. sozio-ökonomisches System, politisches System, Gesetzgebung und Rechtssystem, Lebensorte, gesellschaftliche Institutionen, Infrastrukturen, Natur und Umwelt etc.).

Die evolutionäre Entwicklungstendenz sichtbar machen

Das wirklich Faszinierende bei der Betrachtung unterschiedlicher Linien – so verschieden diese Entwicklungslinien sind – ist, dass alle Linien ohne Ausnahme eine Richtung, eine Tendenz der Entwicklung aufweisen – und zwar hin zu mehr Komplexität und Bewusstheit, einem größeren Gewahrsein.

Konkret gesagt, wir können die unterschiedliche Reife einer Entwicklung erkennen. Die einer Linie innewohnende Sequenz von Entwicklungsschritten wird sichtbar und somit wird auch eine Einschätzung möglich, was eine weniger entwickelte Qualität von einer weiter entwickelten Qualität dieser Linie unterscheidet.

Zwei Beispiele dazu, die du vielleicht aus deinen eigenen Lebenskontexten nachvollziehen kannst:

  • Rechnen-Lernen: Sinnvoller Weise beginnen Schulkinder im Bereich der Mathematik mit einfachen Rechenaufgaben, welche mit Addition und Subtraktion zu tun haben und sich auf konkrete Zahlen im Zehner-Zahlenraum und später im Hunderter-Raum beziehen. Abhängig von ihrem individuellen Entwicklungsstand sind die meisten Kinder in der Lage zunehmend komplexere Rechenaufgaben zu lösen. Neue Rechenoperationen kommen hinzu, dann Textaufgaben, die einen Wissenstransfer erfordern, dann das Rechnen mit Variablen etc. Und es ist natürlich auch sinnvoll, den Mathematik-Unterricht in der Grundschule nicht mit Integral- und Differenzialrechnung beginnen zu lassen – weil dies die Mehrheit der Kinder wohl direkt überfordern würde.
  • Moral-Entwicklung: Eine egozentrische Moral „Das Gute ist das, was immer ich möchte“ ist offenkundig weniger reif als eine soziozentrische Moral „Das Gute ist das, was wir, der Stamm, die Gruppe bzw. die Nation möchten“. Und diese Qualität der Moral ist wiederum weniger weit entwickelt wie eine weltzentrische Moral „Das Gute ist das, was für alle Menschen fair ist – unabhängig von Rasse, Hautfarbe und Religion“.

Entwicklungslinien in Coaching, Therapie und Ausbildungen

Bei der Betrachtung von Entwicklungslinien im Coaching, in therapeutischen Kontexten oder in persönlichkeitsorientierten Ausbildungen interessieren wir uns besonders für den Ausschnitt des Potenzials, welches die Klientin oder ein Teilnehmer praktisch realisiert. Welches er oder sie bewusst oder unbewusst abrufen kann.

Dabei verläuft die konkrete Ausprägung einer Entwicklungslinie sehr selten ganz gradlinig und als klar voneinander abgrenzbare Stufen-Folge. Dies liegt unter anderem daran, dass niemand in der Lage ist, stets auf der maximalen Höhe seiner Möglichkeiten zu operieren. Wir alle kennen gute und schlechte Tage und der Ausschnitt unserer verfügbaren Möglichkeiten variiert von Situation zu Situation – je nachdem wie stressig oder gelassen wir aktuell sein können.

Vielmehr zeigt sich der aktivierte Ausschnitt einer bestimmten Linie bei den meisten Menschen oft eher als Strom oder als Spirale von Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Häufig nehmen diese die Form einer Gaußschen Normalverteilung an mit einem bestimmbaren Schwerpunkt des Entwicklungsspektrums („center of gravity“ der Struktur-Stufen)7.

Nichts ist wie es scheint – es zeigt sich uns allenfalls so

Überhaupt sollten wir uns bei der Arbeit mit Entwicklungslinien – und allgemein im Feld der Persönlichkeitsentwicklung – klar machen:

Nichts „ist so“ wie es uns erscheint – allenfalls „zeigt es sich so“!

Diese bewährte Grundannahme hat eine Reihe weitreichender Implikationen für unser Menschenbild sowie unsere Praxis als Coaches, Therapeuten und Ausbilder – zumal auch wir der Macht unserer eigenen Entwicklungslinien ausgesetzt sind.

Zunächst befreit uns das Sich-so-zeigen von der irrigen Illusion, Eigenschaften wie z.B. Entwicklungslinien einer Persönlichkeit würden tatsächlich „so sein“, also real und unabhängig von einem Beobachter existieren. Stattdessen lenkt das Sich-so-zeigen unsere Aufmerksamkeit auf den Akt der Beobachtung, also auf die Beziehung zwischen subjektivem Beobachter (z.B. uns als Coach oder Therapeutin) und objektiv Beobachtetem (z.B. unserer Klientin). Diese Beziehung konstituiert sich durch die gleichzeitige Anwesenheit von Subjekt und Objekt der Beobachtung und verweist somit direkt auf die persönliche Verantwortung der Beteiligten für ihre eigene Wahrnehmung und Interpretation des Beobachteten.

Darüber hinaus erinnert uns dieses Sich-so-zeigen, diese durch Beobachtung zwischen Subjekt und Objekt entstehende Beziehung an die einfache, jedoch häufig übersehene Tatsache, dass jede noch so objektiv erscheinende Aussage faktisch nur eine subjektive Aussage des Sprechers über sein eigenes Erleben ist. Das was die Klientin z.B. als Problem oder Fragestellung in das Coaching einbringt, aber auch die Art und Weise, was der Coach über die Klientin denkt, welche Interpretationen er anbietet und was er ihr sagt oder rät, all dies ist ausschließlich eine Aussage des jeweiligen Sprechers über sein subjektives Erleben – ein Narrativ. Und obgleich wir diese teilweise sehr dramatischen Narrative für sehr real halten und diese glauben wollen – ihr Grad an Übereinstimmung mit realen Gegebenheiten darf angezweifelt werden. Nicht weil unser Gegenüber (oder auch wir) uns bewusst anlügt oder absichtlich in die Irre führen möchte – sondern weil diese Geschichten einen Teil der Identität ausmachen können, die das Denken, Fühlen und Handeln unseres Gegenübers unbewusst bestimmen. Es ist deshalb hilfreich zu wissen, welches Narrativ sich hier gerade zeigt und wessen subjektive Sicht sich in diesem Fall ausdrückt8.

Diese Narrative basieren nicht nur auf unseren eigenen Erfahrungen und Erlebnissen. Stattdessen eignen wir uns viele dieser Narrative im Laufe unseres Lebens von (guten und schlechten) Vorbildern an, indem wir diese Vorbilder modellieren bzw. nachahmen. Wir übernehmen auf diese Weise schnell und wirksam ganze Kollektionen von generalisierten Ansichten und Überzeugungen über uns, andere und die Welt von ihnen – ohne uns diese im Detail bewusst gemacht zu haben, sie kritisch zu reflektieren oder gar hinterfragend zu durchdenken. Dies führt zu einem hohen Maß an geglaubten Überzeugungen, die keinem Reality Check standhalten. So begegnen uns z.B. immer wieder Menschen die stolz berichten, dass sie aufgrund eines Online-Fragebogens zu Spiral Dynamics als „gelb“ bzw. „integral“ eingestuft wurden – obwohl bereits ein kurzes Gespräch transparent macht, wie diese Person sich zeigt. Auch hier hilft es uns, nicht einfach alles zu glauben, sondern achtsam und präsent zu beobachten, was sich hier zeigen will.

Wenn wir als Coaches und Therapeuten uns über dieses Sich-so-zeigen nicht im Klaren sind, kann dieses hohe Maß an eingeübter Überzeugung zu Problemen in der Arbeit mit unseren Klientinnen beitragen. So kann es uns als Coach oder Therapeutin passieren, dass wir von unserem eigenen Narrativ so überzeugt sind, dass wir unserem Klienten etwas voller Inbrunst einreden, was faktisch nicht mit der Welt des Klienten übereinstimmt. In diesem Fall schicken wir unseren Klienten unabsichtlich auf einen Irrweg, der ihm und uns selbst gar nicht bewusst ist. Oder unsere Klientin selbst glaubt so fest an ihr eigenes Narrativ, dass uns ihre überzeugende Story stark beeindruckt oder gar persönlich mitnimmt. Auf diese Weise gebannt sind wir als Coach/Therapeut nun jedoch außerstande, das eigentliche Thema hinter dem Thema der Klientin zu erkennen. Supervision oder kollegiale Intervision kann uns hier gute Dienste leisten, solche unbewussten Irrtümer aufzudecken und unsere Aufmerksamkeit als Coach und Therapeutin für das Sich-so-zeigen zu schärfen.

Die Reife von Coaches, Therapeuten und Ausbildern

Weitere Herausforderungen bei der Arbeit mit Entwicklungslinien beziehen sich stärker auf uns als post-professionelle Begleiter von Menschen in ihrer eigenen Entwicklung.

Natürlich unterliegen auch wir der Macht unserer eigenen Entwicklungslinien. Und auch wir nehmen die Realität, z.B. die Beziehung zu unseren Klienten, nur durch den derzeit aktiven Ausschnitt unserer eigenen Entwicklungslinien wahr. Auch wir nehmen also nur einen eingeschränkten Ausschnitt der Realität wahr.

Daher ist es für eine erfolgreiche Entwicklungsarbeit mit anderen Menschen um so wichtiger, dass wir stets mehr wahrnehmen als die Klienten, die sich uns anvertrauen. Unsere eigene Entwicklungsreife sollte aktuell umfassender sein als jene unserer Klienten. Andernfalls sind wir nicht wirklich in der Lage, unsere Klienten in ihrem So-Sein zu verstehen und ihnen wirksame Hilfestellungen für ihre weitere Entwicklung anzubieten. Oder würdest du gerne bei jemandem Schwimmen lernen wollen, der selbst nur ein Buch über Schwimmen gelesen hat und noch nie selbst geschwommen ist?

Häufige Missverständnisse bei der Arbeit mit Entwicklungslinien

Zugleich steigt in solchen Konstellationen die Gefahr so genannter Prä-Trans-Verwechselungen erheblich9. Dies führt zu zwei unterschiedlichen Fehlern. Entweder reduzieren wir trans-rationale Realitäten – weil diese unsere eigene Auffassungsgabe übersteigen – auf prä-rationales kindisches Gehabe (Reduktionismus). Oder wir erheben prä-rationale, kindische Bilder und Mythen in den trans-rationalen Himmel (Elevationismus). Beide Fehler sind eklatant und sollten uns als Coaches, Therapeuten oder Ausbilderinnen in der Arbeit mit Klientinnen und Teilnehmern nicht passieren.

Eine weitere typische Verwechslung bei der Arbeit mit Linien, ist das Verwechseln oder gar Gleichsetzen einer einzelnen Linie mit Struktur-Ebenen10. Damit geht manchmal auch ein Linienabsolutismus einher, wie dies lange Zeit für die Alleinherrschaft der kognitiven Linie galt11.

Solche Linien-Ebenen-Verwechslungen treffen wir häufig bei der Anwendung von Spiral Dynamics in der Persönlichkeitsentwicklung an. Hier werden gerne die Erkenntnisse dieser einen Werte-Linie verallgemeinert auf Struktur-Ebenen, also ganze Sets von diversen, auch voneinander unabhängigen Entwicklungslinien. Dies ist wenig hilfreich: Spiral Dynamics ist nur eine Facette der Persönlichkeit, eine Entwicklungslinie – nämlich jene, welche die Werte-Entwicklung charakterisiert. Wir selbst verwenden Spiral Dynamics jedoch praktisch mehrfach – sowohl als individuelle Werte-Linie (ICH-Quadrant) wie auch zur Charakterisierung kultureller Kontexte (WIR-Quadrant) und sozialer Systeme und Umwelten (SIE-Quadrant). Aber dies sind und bleiben Entwicklungslinien.

Das sich daraus ergebende Chaos wird oft noch dadurch verstärkt, dass Farbgebung und Bezeichnungen der weithin bekannten Spiral-Dynamics-Linie auch gerne für eine synonyme Farbgebung und Bezeichnungen von Struktur-Ebenen und anderen Linien verwendet werden. Uns veranlasst diese Beobachtung dazu, künftig für die Farbgebung und Bezeichnung von Struktur-Ebenen zu Wilber’s Modell zurückzukehren12.

Die Puzzle-Teile zusammenfügen

Um nun ein möglichst umfassendes Bild der wesentlichen Facetten einer Persönlichkeit zu zeichnen, hat sich eine Auswahl bestimmter Entwicklungslinien für unsere Coaching- und Therapie-Praxis bewährt. Häufig verwenden wir folgendes Set an Linien:

  • Kognitive Linie – beantwortet die Frage: „Was nehme ich bewusst wahr?“.
  • Selbst-Linie – beantwortet die Frage: „Was von dem, was ich bewusst wahrnehme, nenne ich mein »Selbst« oder »Ich/mich«?“.
  • Werte-Linie – beantwortet die Frage: „Was von den Dingen, die ich bewusst wahrnehme, schätze ich am meisten?
  • Körperliche Verfassung – gibt als zusammenfassende Einschätzung von Fitness, Ernährung, Gesundheit und biologischer Disposition Auskunft über den aktuellen Stand der körperlichen Verfassung.
  • Verhaltensweisen – gibt Auskunft über das beobachtbare Spektrum pro-aktiver und passiv-reagierender Verhaltensweisen.
  • Herkunftskultur, Berufskultur sowie private Kultur (drei Linien) – eine ungefähre Einschätzung der jeweiligen Kulturen der Herkunftsfamilie, am Arbeitsplatz und im privaten Umfeld mit Hilfe von Spiral Dynamics.
  • Herkunftssystem, Berufssystem sowie private Systeme (drei Linien) – eine ungefähre Charakterisierung der jeweiligen Systeme (Herkunfts-Umgebung, berufliche Umgebung und aktueller Lebensmittelpunkt) mit Hilfe von Spiral Dynamics.

Natürlich hängt die Auswahl der Linien von dem jeweiligen Coaching- bzw. Therapie-Anliegen ab. Insofern setzten wir je nach Fragestellung auch ggf. ergänzende oder andere Linien ein, z.B. die Linie der Moral-Entwicklung oder die Linie der spirituellen Entwicklung.

Und wohin geht deine Reise?

Wir hoffen, dass dieser Artikel dich auf die spannende Arbeit mit Entwicklungslinien neugierig gemacht hat. Diese Arbeit ist zwar schwierig, jedoch durchaus erlernbar – wie jedes Handwerk. Und vielleicht ist dir die oft anzutreffende Überbetonung von Spiral Dynamics bewusst geworden und du hast Lust bekommen, nun auch andere Entwicklungslinien eingehender zu erforschen. Dann haben wir vermutlich einiges richtig gemacht.

Möglicherweise willst du die Zusammenhänge im Integralen Ansatz auch insgesamt erschließen oder vertiefen, dann kannst Du eine unserer Ausbildungen oder Seminare besuchen. Und wie wir die Integrale Landkarte in unserer Integralen Organisations- und Struktur-Aufstellungsarbeit (IOSA) einsetzen, erlebst du ganz praktisch und hautnah an einem unserer offenen Aufstellungstage. Wir freuen uns auf dich.

Endnoten

  1. Siehe dazu ausführlich das sehr lesenswerte Buch von Abdi Assadi (2011): „Schatten auf dem Pfad“, Theseus / Kamphausen, Bielefeld.
  2. Für eine gute, leicht verständliche Einführung in den Integralen Ansatz empfehlen wir die jüngeren Werke von Ken Wilber, z.B. „Integrale Vision“ (2009) oder „Integrale Meditation“ (2017) oder – etwas ausführlicher – „Integrale Spiritualität“ (2007).
  3. Siehe dazu Ken Wilber (2007): „Integrale Spiritualität“, Kösel, München. S. 342ff und S. 367ff.
  4. Dass lange Zeit die Existenz multipler Entwicklungslinien ignoriert wurde, war vor allem dem Ego und der Renitenz der meinungsführenden Forscher dieser Community geschuldet. In ihren Augen erwies sich ihre eigene Entwicklungstheorie oft als universell und somit einzig gültige Theorie der Entwicklung. Und um ihr eigenes „Baby“ zu schützen, wurden alle anderen Erklärungsansätze ignoriert oder gar öffentlich diffamiert.
  5. Gardner differenziert sprachlich-linguistische Intelligenz, logisch-mathematische Intelligenz, musikalisch-rhythmische Intelligenz, bildlich-räumliche Intelligenz, körperlich-kinästhetische Intelligenz, naturalistische Intelligenz, interpersonale Intelligenz sowie intrapersonelle Intelligenz voneinander. Zudem zieht er eine weitere, neunte Intelligenz in Betracht: existenzielle Intelligenz oder spirituelle Intelligenz. Mehr dazu siehe Howard Gardner (1983): „Frames of mind: the theory of multiple intelligences. Basic Books, New York.
  6. Siehe dazu Ken Wilber (2001): „Integrale Psychologie“, Arbor, Freiamt.
  7. Tatsächlich ist dieser Schwerpunkt der Struktur-Stufe nur eines von zwei Schwerkraftzentren unseres Ichs. Das andere ist der aktuelle Schwerpunkt unserer Zustands-Stufe. Im Detail siehe Ken Wilber (2017): „Integrale Meditation“, O. W. Barth, München. S. 125ff.
  8. Dazu verweisen wir auf das sehr lesenswerte Buch von Tom Amarque (2015): „Narratives Bewusstsein“, Phänomen-Verlag, Sencelles (Spanien).
  9. Siehe dazu u.a. Ken Wilber (2007): „Integrale Spiritualität“, Kösel, München. S. 81ff.
  10. Siehe dazu u.a. Ken Wilber (2007): „Integrale Spiritualität“, Kösel, München. S. 252ff.
  11. Siehe dazu u.a. Ken Wilber (2007): „Integrale Spiritualität“, Kösel, München. S. 91f.
  12. Siehe dazu u.a. Ken Wilber (2007): „Integrale Spiritualität“, Kösel, München. S. 123 ff.

Der Artikel wurde am 11. August 2019 in der Ausgabe 08-2019 des Online-Journals „Integrale Perspektiven“ des Integralen Forums e.V. veröffentlicht.

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